DOKUMENTATION ÜBER POLIZEIGEWALT 1981-1986
Auseinandersetzungen um die Startbahn West
von Jutta Ditfurth
Montag, der 2.11.1981 war der Tag, an dem das Hüttendorf im Wald an der Startbahn West mit Polizeigewalt geräumt wurde. Grausame Szenen schildern später Augenzeug*innen und Betroffene. Eines der bekanntesten Opfer ist der Fotograf von Associated Press (AP), Rolf Böhm, der im Gegensatz zu anderen Startbahngegner*innen später durch die bundesdeutsche Presse geht. Er wurde zusammengeschlagen, als er schon am Boden lag. Wie er später weinend im Krankenwagen berichtete, wurden die jungen Demonstrant*innen, die ihn aufgehoben hatten und ihm helfen wollten, gleich mit verprügelt.
Wäre dieser Fall nicht gewesen, hätten die bundesdeutsche Medien über die Überfälle der Polizei im Wald berichtet? Hätte sie vor allem so betroffen berichtet, wären nicht der geschlagene Rolf Böhm und die behinderten Pressefotografen gewesen? Selbst die Bild-Zeitung erschien manchem am nächsten Tag, wie sie wütend, betroffen über die eigenen Behinderungen durch die Polizei berichtete, wie »die reinste Revoluzzerpostille« (so ein Frankfurter Journalist).
Hier in Hessen werden diese zivilen, Ungehorsam praktizierenden Menschen vom Staat mit (fast) allen Mitteln bekämpft:
• Wer durch Sitzstreik den Tod von Millionen lebensnotwendigen Bäumen zu verhindern sucht, ist ein »gewalttätiger Vorzeigebürger«.
• Wer ultimativ von der Landesregierung einen Baustopp fordert, wird wie Magistratsdirektor Alexander Schubart vom Dienst suspendiert und kriminalisiert. Um ihn und mit ihm die Anti-Startbahn-Bewegung in die Nähe des Terrorismus zu rücken, wurde »sein Fall« dem Terroristenfahnder Generalbundesanwalt Rebmann übergeben.
• Wer entsprechend der hessischen Verfassung das Volk über ein großtechnologisches Projekt entscheiden lassen will, ist ein – »Staatfeind«.
Kurz: Wer mehr tut, als die Beton- und Atompolitik der hessischen Landesregierung nur passiv zu erdulden, ist nach Aussagen des hessischen Innenministers Gries ein »Asozialer, Krimineller und Chaot«.
Als wir an diesem Abend die Bilder sahen von den sportlichen, schlagkräftigen Beamten in Kampfanzügen, mit weit mehr als einem Meter langen hellen Knüppeln, wie sie über Gräben sprangen und Menschen nachjagten, Zusammengesunkene schlugen, die Presse behinderten, ein Stück Demokratie zerschmetterten – da wussten wir noch nicht, dass wir am nächsten Abend mitten in Frankfurt ähnliches erleben würden.
Am Montagabend noch hatte in Frankfurt eine riesige Demonstration stattgefunden, die, weil sie friedlich blieb, wohl kaum Nachrichtenwert gehabt hätte, wäre da nicht die Hauptbahnhofbesetzung gewesen. Wie die Ankündigung einer Blockade des Flughafens wenige Wochen später war der Nachrichtenwert für die Fälle reserviert, bei denen wichtige wirtschaftliche Faktoren dieser Gesellschaft bedroht zu sein schienen. Nicht die mühselige Arbeit von Bürgerinitiativen zählt, nicht der stille Protest vieler Menschen. Der ist den Medien meist keine Nachrichten wert.
Während des ganzen folgenden Dienstags (3.11.1981) wurde im Wald auf dem Gelände, das für die Stadtbahn West beansprucht wird, im Wald das Hüttendorf zerstört. Am gleichen Abend nahmen mehr als zehntausend Menschen in Mörfelden an einem Fackelzug teil, und dort wurde für 23 Uhr zu einer spontanen Demonstration im Frankfurter Nordend aufgerufen. Diese Nacht auf den 4.11.1981 in Frankfurt ist eigenartig. Viele Startbahngegner*innen laufen durch die Stadt, halten es nach den Ereignissen der Nacht zuvor allein zu Hause kaum noch aus. So lebendig, aufgewühlt und gleichzeitig friedfertig war Frankfurt schon lange nicht mehr.
»In der Nacht vom 3. auf den 4. November 1981: Ein paar hundert Startbahngegner demonstrieren friedlich im Frankfurter Nordend. Gegen 0.30 Uhr erreichen sie die Rohrbachstraße, eine alte Wohnstraße. Sie wissen nicht, dass sich mehrere Hundertschaften Polizei in Seitenstraßen versteckt halten und einen regelrechten Hinterhalt gelegt haben. Die Falle ist perfekt, und sie schnappt zu. Entsetzte Anwohner, die durch Angstschreie aus den Betten gerissen werden, erleben mit, wie überall in ihrer Straße Menschen hemmungslos zusammengeschlagen werden. In Kampfanzügen mit außerordentlich langen Spezialknüppeln dreschen die bewaffneten Staatsvertreter auf die Menschen ein, nur weil sie Startbahngegner sind. Sie jagen sie in Hinterhöfe und Keller. Manche flüchten auf Dächer oder versuchen an Dachrinnen hochzuklettern. Nur wenige können sich retten. Manche springen durch Fenster in dunkle Wohnungen. Viele werden von Anwohnern notversorgt. Aber es gibt auch Anwohner, die die Türen fest verschließen und die Polizei rufen. Doch die ist ja schon da. (1)
(…) Die Demonstration, die sich nach 23.30 Uhr vom Friedberger Platz wegbewegte, war friedlich. Von so fröhlicher, ausgelassener Stimmung immerhin, dass unterwegs noch Menschen – und nicht nur »vorwiegend jugendliche Demonstranten« – aus ihren Wohnungen kamen und mitliefen. Über die Bergerstraße in die Hartmann-Ibach-Straße – am Nazi-Buchladen vorbei, der am Ende des Zuges mit Farbe besprüht wurde (später wurde er aufgebrochen), ging es in die Rohrbachstraße.
Übereinstimmend von mehr als 150 Zeug*innen beschrieben und von uns selbst, erlebt die Szene ohne Vorwarnung folgendes: eine spontane Demonstration, und damit durch das Grundgesetz gegenüber anmeldepflichtigen Demonstrationen noch privilegiert, wird ohne ein einziges Wort, ohne Warnung, ohne Auflösungsaufforderung aus einem gezielt penibel vorbereiteten Hinterhalt eingeschlossen und zusammengeschlagen, von Polizisten ohne Schutzschilder, aber mit extralangen Knüppeln.
Höhepunkt war der sadistische Spießrutenlauf durch die Knüppelgasse. Anwohner*innen, welche den Überfall aus den ersten bis vierten Stockwerken beobachteten, verglichen ihn mit Berichten aus dem deutschen Faschismus oder lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Nachdem die Demonstration von den beiden offenen Seiten zwischen Polizeiketten eingeschlossen war, trieb die Polizei einen Teil der Startbahngegner*innen zusammen. Hundert bis einhundertfünfzig Menschen wurden von einer Polizeikette, unter brutalen Knüppelschlägen halbkreisförmig an die Häuserwand gedrückt.
Volker Steinbacher: »(…) schlugen diese Beamten unter Einsatz ihrer ganzen Körperkraft mit weitausgeholten Schlägen auf die sich zusammenkauernde Menge ein, bis die Demonstranten schreiend und schwerverletzt oder bewusstlos Reihe für Reihe zusammenbrachen. Auch auf die am Boden liegenden Personen wurde erbarmungslos geknüppelt, als wollte man mit Äxten Bäume fällen.«
Kerstin Schaper: »(…) Leute schrien in Todesangst. Ich versuchte meinen Kopf zu schützen, dies gelang mir aber nicht, da wir zu eng standen. Ich hatte noch nie so eine Angst wie in diesem Moment. Nachdem die Polizisten einige Minuten auf uns eingeprügelt hatten, lockerte sich die Gruppe, und auch ich drehte mich um. Ich wollte (…) aus der Rohrbachstraße davonrennen. Da sah ich zu meinem Entsetzen, dass die Polizei eine Knüppelgasse gebildet hatte, durch die jeder hindurch musste (…) Aus dem grösseren Halbkreis der Polizisten war ein Kreis mit nur noch einem Ausgang geworden. Man kann es kaum fassen, dass der menschenverachtende Sadismus der eingesetzten Polizisten tatsächlich soweit ging, auf Befehl eines verantwortlichen Einsatzleiters eine Gasse zu bilden und die verprügelten Demonstranten hindurchzujagen« und zum x-ten Mal zusammenzuschlagen.
Zusammengeschlagen in einer Weise, dass ein meist verborgener, oft verdrängter Bereich dieser Gesellschaft plötzlich abrupt lebendig wird. Zwei oder drei Hundertschaften, niemand von uns weiß das so genau, schlagen mit langen Knüppeln auf Menschen ein, als wären sie nasse Säcke, minderwertige Lebewesen. Von »SS-Schlägertrupps im Deutschen Faschismus« ist später auf unserer Bürger*innenversammlung die Rede, und das ist eine der Stellen an jenem Diskussionsabend, die den meisten Beifall erhalten.
Niemand der die Szene der Straße von Beginn an beobachtete, konnte diesen Eindruck bis heute vergessen. »Es war ihnen völlig gleichgültig, ob sie Menschen dabei totschlagen…«, so eine Augenzeugin später. (2)
(…)
Auszug aus einer Rede, Stadtverordnete Jutta Ditfurth (GRÜNE):
»… Wie Sie vielleicht wissen, war ich an dieser Demonstration selbst beteiligt, auch Manfred Zieran von unserer Fraktion. Wir haben abends – vielleicht um 21 Uhr – davon erfahren, dass im Nordend spontan eine Demonstration sein sollte…Wir sind hingegangen.«
Stadtv. Daum (CDU): »Spontan! Spontan!«
»Ich glaube, Sie haben alle keine Ahnung, dass spontane Demonstrationen eine legale Sache sind.«
Unruhe bei der CDU.
»Also Ihr Rechtsempfinden oder Ihre Grundkenntnisse sind trotz Ihrer vielen hochkarätigen Juristen grauenhaft unterentwickelt.«
Stadtv. Dr. Moog (CDU): »Die haben sich alle zufällig getroffen. Die haben sich spontan getroffen.«
»Ich glaube, Sie können sich solch eine Spontaneität, dass man sich aus Protest gegen etwas spontan verabredet und eine Demonstration macht, überhaupt nicht vorstellen, weil Sie schon viel zu vertrocknet sind.«
Unruhe bei der CDU.
Stellv. Stadtv.-Vorsteherin Frau Dr. Balser:
»Meine Damen und Herren, Frau Ditfurth hat das Wort. Bei dieser Debatte gibt es sicher Erregung genug, lassen Sie sie bitte sprechen.«
»Kann ich jetzt mal weiterberichten?«
Stadtv. Holler (CDU): »Ja, Frau Lehrerin.«
»(…) Es haben viele Debatten drüber stattgefunden, auch gerade in kirchlichen Kreisen, dass das Prinzip ′Gewaltfreiheit′ unwahrscheinlich schwer zu vertreten ist zu einem Zeitpunkt, an dem diejenigen, die zum ersten Mal in ihrem Leben z.B. solche Formen wie Sitzstreiks ausprobieren, und die erste Erfahrung, die sie machen, ist, dass sie die Köpfe eingeschlagen kriegen. Also da gab es schon Debatten drüber, ob das Probieren von gewaltfreiem Widerstand überhaupt einen Sinn hat unter solchen Umständen.«
Stadtv. Daum (CDU): »Was ist denn da gewaltfrei?«
Zwischenrufe, zeitweise war es unmöglich, den Redebeitrag fortzusetze.
Unruhe bei der CDU.
»An diesem Abend schlossen sich eine ganze Menge Leute dieser Demonstration an, nachdem sie merkten, dass diese Demonstration einen friedlichen Charakter hatte, das kann man z.B. auch daran schon erkennen, dass gesungen worden ist, weil Leute mit Flöten dabei waren, Leute, die getrommelt haben, es war lustig und friedlich. Laut war es ganz bestimmt, das bestreite ich nicht.«
Stadtv. Diensberg (CDU): »Die Rattenfänger waren unterwegs.«
»Die Ausstrahlung der Demonstration war immerhin so friedlich, dass sich unterwegs Leute angeschlossen haben und mitgegangen sind. Anwohner, z.B. ein FDP-Mitglied, der inzwischen ausgetreten ist, weil er die Erfahrung so verarbeitet hat, dass er den Gries nicht mehr akzeptiert.«
Stadtv. Dr. Moog (CDU): »Hat spontan geflötet.«
Es folgt ein Bericht über den Überfall selbst und darüber dass es keinerlei Aufforderung der Polizei zu Auflösung der Demonstration gegeben hat. Auf die Beschreibung des brutalen Polizeiüberfalls folgt der Zwischenruf des CDU-Fraktionsgeschäftsführers und Stadtverordneten Daum:
»Das war eine spontane Reaktion der Polizei.«
»Es gibt inzwischen (…) fast 150 Zeugenaussagen, und zwar sehr gemischte, sowohl in den Altersgruppen als auch von den Berufen her; beschrieben wird (wie diese Polizeibeamten; d. Red.) auf diese Menschen eingeschlagen haben, als wären sie Vieh, als wären sie nasse Säcke. Die haben eingeschlagen mit der Kraft ihres ganzen Körpers – nicht so, wie man eben mal jemanden verprügelt, wenn man sich streitet oder so (…) sondern mit der ganzen Kraft ihres Körpers haben sie die zusammengeschlagen und haben (…) mit mehreren Polizisten Menschen zusammengeschlagen, die auf der Straße gelegen haben und noch nicht einmal die Hände vors Gesicht nehmen konnten, um ihren Kopf zu schützen.«
Stadtv. Daum (CDU): »Ihren Zeugen glaube ich nicht.«
»Meine Zeugen sind z.B., Herr Daum, weil Sie nur so unwahrscheinlich zynisch über solche Sachen reden können…die Zeugen werden alle namentlich in den Prozessen aufgeführt. Sie können dort hinkommen.«
Stadtv. Dr. Moog (CDU): »Was sagt das!«
Stadtv. Riechemeier (CDU): War auch ein Arbeiter dabei?«
Unruhe bei der CDU. Zwischenrufe von der CDU.
(Es folgen ausführliche Beschreibungen der Verletzungen von Menschen durch die Polizei in der Rohrbachstraße.)
»Ich habe in meinem Leben. Wo ich doch an vielen Demonstrationen teilgenommen habe, noch nie einen solchen Ausbruch von Gewalt von Menschen auf andere Menschen erlebt. Am nächsten Morgen haben wir ganz schnell eine Pressekonferenz gemacht, und wir waren zum Teil nicht mehr in der Lage, auf der Pressekonferenz zu reden, weil wir solche Sachen noch nicht erlebt haben. Wenn Sie sehen, dass ein Mensch auf der Straße liegt und schon blutet am Kopf, eine Platzwunde hat und den Finger verletzt hat, der liegt da und bewegt sich nicht, und dann zusammengeschlagen wird von vier weiteren Beamten, obwohl er sich überhaupt nicht rührt, dann frage ich mich, was ist in Hessen passiert, dass es eine Polizei gibt, die ein so faschistoides Menschenbild hat, dass andere Menschen ihr einen Dreck wert sind.«
Stadtv. Daum (CDU): »Unverschämtheit!«
Unruhe bei der CDU.
»Herr Daum, Sie schreien jetzt wieder Ihre üblichen Sprüche ins Parlament. Herr Daum, beantworten Sie mir diese Frage, was sagen Sie von Menschen…«
Zwischenruf: »Sie ziehen doch eine Schau ab.«
»…wenn vier Menschen, vier bewaffnete Menschen mit aller Staatsgewalt im Hintergrund einen Menschen zusammenschlagen, der bewusstlos auf der Straße liegt – wie nennen Sie das?«
Stadtv. Daum (CDU): »Ihre Schau, die kennen wir.«
»Was für eine Einstellung haben diese Menschen zu diesem Verletzten, der da liegt? Das erklären Sie mit einmal anders als mit dem Begriff ′faschistoid′.«
Zwischenruf: »Es ist unerträglich hier!«
»Faschistoid bedeutet, dass Menschen eine Einstellung zu anderen Menschen haben, dass sie sie als minderwertig betrachten. Und das muss ich sagen, wenn ich Menschen sehe, die mit solchen langen Stöcken und sonst noch wie bewaffnet auf Menschen einschlagen, die da liegen…«
Zwischenruf: »Mit Stahlkugeln.«
»Mit einer Stahlkugel hat da keiner geschossen und Stahlkugeln lehnen wir ab, das wissen Sie ganz genau.«
Gelächter und Zwischenrufe bei der CDU.
»Versuchen Sie nicht, mit billigen Tricks jetzt Sachen zu vermischen. Wir haben uns immer von gewaltvollen Mitteln, von jeder Form von Verletzung von Menschen distanziert, immer.«
Unruhe und Zwischenrufe bei der CDU.
»Wenn Sie nicht in der Lage sind, zu begreifen, dass es eine breite Bewegung gibt und dass in dieser Bewegung unterschiedliche Menschen sind,…«
Stadtv. Schönberger (CDU): »Ihr habt noch nicht genug Bewegung.«
»…und dass die meisten Gruppen ein gewaltfreies Konzept vertreten und dass es andere gibt, für die man nicht immer verantwortlich sein kann, weil die Sache eskaliert ist in den letzten Monaten. Und wir sagen: Stahlkugeln lehnen wir ab, und wie lehnen ab, wenn irgend jemand, auch ein Polizist, verletzt wird. Und ich rede von einer Demonstration, die nachweisbar gewaltfrei war, und ich frage Sie, wie nennen Sie das, wenn da Menschen zusammengeschlagen werden, die nichts getan haben, außer vielleicht laut singend durch die Straßen zu gehen? Das ist ja wohl kein Grund, irgend jemand zu verletzen…«
Stadtv. Daum (CDU): »Ihre Verharmlosungen kennen wir.«
»…und diese Frage möchte ich heute von Ihnen beantwortet haben.«
Zwischenruf: »Staatsschauspielerin«!
Klatschen – Stadtv. Holler (CDU).
Aus der Antwort des CDU-Stadtverordnetenvorstehers Hellwig:
»Es geht nicht mehr um die Startbahn, nein, es geht um unseren Staat. Es geht um die Rechtsstaatlichkeit, auf der unser Gemeinwesen aufgebaut ist (…) Der Flughafen wurde blockiert, Autobahnsperren errichtet in tiefster Verachtung für das Leben Abertausender Menschen. Hier hat sich die Arroganz einer staatsfeindlichen Minderheit gezeigt, für die wir in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kein Beispiel finden. Wir müssen schon in die Weimarer Republik und die anschließend dunkelste Epoche der deutschen Geschichte zurückgehen, um Vergleiche ziehen zu können. Die Erscheinungsformen des Terrors sind weitgehend dieselben geblieben, mögen auch die politischen Ursprünge verschieden sein. Wenn eine Minderheit sich mit Gewalt, mit politischer Erpressung, mit der Gefährdung des Lebens unzähliger Unbeteiligter gegen demokratische Entscheidungen der Mehrheit wendet, deren Rechtsstaatlichkeit von unabhängigen Gerichten bestätigt worden ist, dann verachtet diese Minderheit unseren demokratischen Rechtsstaat, dann will sie ihn zerstören, dann will sie einen anderen Staat, an dessen Beginn Unrecht, Chaos und Anarchie stehen.«
(3)
Was für Parteien regieren in diesem Land, die solche Entwicklungen kennen, decken oder sogar fördern? Ein FDP-Innenminister beschimpft Polizeigewerkschafter, die es wagen, ihn zu kritisieren, und bescheißt aus Effekthascherei BI-Vertreter*innen (der Mythos von der »angebotenen Hand«), ein SPD-Ministerpräsident lässt sich keine Gelegenheit aus den Händen gleiten, in der er gegen die Bürgerinitiativen hetzen kann. Gestern verglich er uns mit Nazis. Was anders als die Hoffnung, mit solchen Volksverhetzungen schließlich doch noch die ersehnte Gewalt auf seiten der BI-ler auszulösen, kann Sinn dieses geistigen Terrorismus sein? Und der glatte OB Wallmann, verantwortlich für die von ihm gebilligten Polizeiübergriffe in Frankfurt, gern bereit für teures Steuerzahlergeld zu repräsentieren, aber noch faszinierter von der Idee der totalitären Alleinherrschaft. Die Bevölkerung muss dumm gehalten werden, von diesem etablierten Triumvirat, das uns den militärischen Weg, den ökologischen Bürgerkrieg aufzwingen will?
In diesem Bundesland wird zur Zeit wie in keinem anderen jeder Versuch gemacht, den gewaltfreien, aktiven und phantasievollen Weg von unten mit einer Flut von Diffamierungen zu überschütten. Die Angst der Herrschenden vor dieser Widerstandsform gibt uns zu denken oder besser noch die Bestätigung, dass dies der Weg ist, mit dem sie am wenigsten anfangen können, bei dem sie am leichtesten die politische Legitimation zu herrschen restlos verlieren. Nur müssen wir in Frankfurt bestimmte Aktionen besser vorbereiten, üben. Die Haubtbahnhofbesetzung war ein hervorragender Anfang.
Was in der Rohrbachstraße geschah, geht weit über das hinaus, was wir bislang an Auseinandersetzungen mit der Polizei erlebt haben. Was den Menschen, die in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1981 gegen die Startbahn West demonstrierten, bis heute zu schaffen macht, ist die hautnahe Erfahrung mit dem Rechtsstaat. Ist, dass sie von Vertretern ihres Staates wie minderwertige Lebewesen, wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Vielen drängte sich die Erinnerung an den deutschen Faschismus auf: nächtliche Überfälle, Uniformierte in Kampfanzügen, ungeheure Beschimpfungen, Morddrohungen (»Heute nacht schlagen wir euch tot!«) und Schläge auf Hilflose und Verletzte, die daliegen und sich nicht wehren. Wir waren nicht mehr Teil eines Konflikts oder aggressiver Partner in einem Streit, wie er zwischen Menschen immer mal vorkommt. Wie waren nur nasse Säcke, auf die ohne jegliche Hemmungen eingeschlagen werden durfte.
Vor dem Polizeiüberfall war die Rohrbachstraße eine ganz normale Straße. Sie ist jetzt ein Symbol. Plakate und Transparente an den Häusern, Fenstern und Autos tauchten schon am Tag nach dem Überfall auf. Frauen und Männer, die teilweise zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilnahmen, haben in wenigen Stunden mehr über diesen Staat gelernt als in vielen Jahren Schule, Ausbildung und Beruf.
Viele junge Leute haben die Erfahrung gemacht, von allen Seiten unter Druck zu geraten, sobald sie sich kritisch äußern und vor allem kritisch handeln. Politische Repressionen gemeinsam mit steigender Jugendarbeitslosigkeit sind ein Mittel, um Menschen das Rückgrat zu brechen. Die Rohrbachstraße war ein Versuch in diese Richtung.
Keine der etablierten Parteien, weder SPD noch CDU oder FDP, hat bisher eine auch nur bedauernde Stellungnahme abgegeben. Die Polizei hat sich erst 4 Wochen nach dem Überfall dazu herabgelassen – nachdem sie vergeblich versuchte, den Vorfall zu leugnen –, eine Stellungnahme abzugeben. Diese Stellungnahme machte die unschuldig verletzten Menschen nun auch noch zu Tätern. Alle möglichen behaupteten Straftaten, die in dem 40 000 Einwohner-Stadtteil Nordend in dieser Nacht begangen worden sein sollen, werden nun ihnen untergeschoben.
Eine zentrale Frage ist für uns: Wie konnte es in Hessen dazu kommen, dass sich innerhalb der Polizei ein so faschistoides Menschenbild entwickeln konnte? Seit dem Krieg regiert in Hessen eine SPD- bzw. SPD/FDP-Regierung, von der man eigentlich erwarten könnte, dass sie aus der deutschen Geschichte etwas mehr gelernt hat als die CDU. Wir greifen sie als diejenigen an, die für die Polizeiausbildung verantwortlich sind. Als die, die nichts gegen ein solches Menschenbild bei Polizeibeamten getan haben, ja ein solches Menschenbild sogar noch fördern, weil es ihren politischen Zwecken dient. Ein verräterisches Signal für ein solches Menschenbild und eine militaristische Ideologie ist die Sprache mancher Politiker. Der hessische Innenminister Gries (FDP) hat sich wie der SPD-Ministerpräsident Börner mit einer besonders diskriminierenden Sprache hervorgetan. Immer wieder heizt er das politische Klima in Hessen an, immer wieder hetzt er - z. B. in der Bild-Zeitung - gegen die Gegner*innen der Startbahn West. Er diskreditiert alte und junge Menschen aus den Gemeinden um den Flughafen mit Beschimpfungen wie »Vorzeigebürger, Asoziale und Chaoten«. Nach einer Demonstration, die friedlich verlief, protzte er vor der Presse, dass er die Demonstranten mit seinen Wasserwerfern hätte »wegblasen« können. Die hessische Landesregierung braucht die Ideologie von der Minderwertigkeit des politischen Gegners, um die eigenen Bürger noch effektiver bekämpfen zu können. Sie braucht sie auch, um sie an ihre Vollzugsbeamten weitergeben zu können, damit mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wird, was sich an Kritik und Protest regt.
Die hessische SPD/FDP-Landesregierung ist nicht nur dialogunfähig. Sie hat keinen Rest politischer Moral mehr. Einzige Triebfeder ihres Tuns ist Machterhaltung. Nur unter diesem Gesichtspunkt werden Entscheidungen getroffen, und nur unter diesem Gesichtspunkt kam der von vielen immer noch als Friedensengel missverstandene Willy Brandt nach Wiesbaden, um die Startbahnbauer-Koalition zusammenzuschmieden. Der Polizeiüberfall in der Rohrbachstraße war kein Zufall, kein einmaliges Unglück. Er war Teil einer Entwicklung, die einhergeht mit wachsenden Repressionen gegen politisch Andersdenkende und sozial Schwache durch einen immer verkrusteteren und undemokratischeren Staat.
Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, in der der schnell wachsende Protest der Menschen gegen die systematische Zerstörung von Natur und Mensch mit aller Staatsgewalt niedergehalten werden soll. Widerstand als Recht der Bürger*innen wird – so zeigt es z. B. die Debatte in der Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt – mystifiziert und nur den Menschen des 20. Juli 1944 im nachhinein zugestanden, und auch nur dann, wenn eine Katastrophe schon Jahre andauert. Aber wir bestehen auf unserem Recht auf bürgerlichen Ungehorsam, auf gewaltfreien, aber aktiven Widerstand gegen diejenigen, die unsere sozialen und ökologischen Lebensbedingungen aus Ignoranz und Profitinteresse zerstören wollen.
Wenn wir sehen, wie sich die politisch Verantwortlichen verhalten und in welche Richtung die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vorangetrieben werden (s. Anhang), haben wir keine große Hoffnung auf eine unabhängige Justiz.
Trotz körperlicher und seelischer Verletzungen, trotz Repressionen durch Arbeitgeber, Hausbesitzer, Lehrer und manchmal auch Verwandte hat keiner der Zeugen seine Zusage zurückgezogen, öffentlich vor Gericht auszusagen. Einige derjenigen, die in der Rohrbachstraße auf den Staat trafen, haben festgestellt, dass sich ihr Verhältnis zur Gewalt verändert hat, dass sie sich z. T. zum ersten Mal gewaltsam hätten wehren wollen. Manche hatten in den Tagen danach regelrechte Gewaltphantasien. Einige sind jetzt vielleicht bereit, die Gewalt anzuwenden, die sie sonst aus überzeugung ablehnen. Eine Erfahrung, die weh tut. Wir wissen nicht, wie diese Erfahrung verarbeitet wird. Aber wir können uns gut vorstellen, dass durch diesen Polizeiüberfall ein Teil zukünftiger Gewalt produziert worden ist.
Resignation ist die andere Seite der Medaille. Der Staat missbraucht sein verfassungsmässiges Gewaltmonopol in Hessen. Für uns, die wir in dieser betroffenen Region leben, ist sichtbar, wie der Staat die Gewalt selbst produziert, die er später zur Rechtfertigung seines Handelns braucht. Das ist unsere politische Alltagserfahrung seit geraumer Zeit.
Im Gegensatz zur hessischen Regierung haben wir kein Gewaltmonopol, das wir gegen unsere politischen Gegner anwenden können, und wir wollen es auch nicht. Wir nehmen uns aber das Recht auf gewaltfreien und aktiven Widerstand, weil es um die grundsätzliche Frage unserer Lebensbedingungen als Menschen in dieser Region geht. Die Verteidigung der ökologischen Bedingungen des eigenen Lebens hat eine Qualität, die der gegen soziale, wirtschaftliche oder rassistische Ausbeutung vergleichbar ist. Es ist verlogen, wenn einerseits von bundesdeutschen Politiker*innen der Widerstand unterdrückter Menschen in anderen Ländern gegen die Herrschenden gefeiert wird (Polen, Tschechoslowakei), die Menschen hier sich aber blind den Anweisungen von oben beugen sollen. Aktiver, gewaltfreier Widerstand ist unsere politische Strategie, mit der wir uns gegen die wehren, die uns jegliches Selbstbestimmungsrecht nehmen wollen. 80 Prozent der Menschen dieser betroffenen Region sind gegen das Projekt Startbahn West, aber 100 Prozent der sogenannten Volksvertreter im Landtag sind für dieses zerstörerische Projekt. Wir zweifeln an der Funktionsweise dieser repräsentativen Demokratie, in der Bürger nur alle 4 Jahre eine Stimmkarte ausfüllen dürfen. Es fehlt die basisdemokratische Anbindung der Parlamentarier. Die einzige Kontrolle ist bei den undemokratisch strukturierten etablierten Parteien, nicht beim Wähler. Wir müssen über Möglichkeiten direkter Demokratie diskutieren.
Gewaltfreier Widerstand, das Konzept der Bürgerinitiativen vor Ort, wird von der hessischen Landesregierung nur dann akzeptiert, wenn wir Bürger*innen uns passiv verhalten. Sitzstreik darf unter Umständen sein, allerdings nicht da, wo er stört, nicht an wirtschaftlichen Brennpunkten. Dass die Bürger dieser Region inzwischen die Erfahrung machen durften, dass sie im Sitzstreik besonders gut zusammengeschlagen werden können, hat gerade ältere Leute zur Anschaffung von Bauhelmen getrieben, weil sie Angst um ihre Köpfe haben. Nun sind auch sie in der Terminologie von CDU, SPD und FDP bewaffnete, gewalttätige, vorwiegend jugendliche Demonstranten.
80 Prozent der Menschen einer Region haben sich sachkundig gemacht und sind mit gut durchdachten Argumenten Gegner*innen dieser Startbahn West geworden, die ein Wirtschaftsunternehmen [Flughafen Frankfurt/Main AG, kurz: FAG], eng verfilzt mit der Landesregierung, durchsetzen will. Immer mehr Vorsichtige und Zauderer entdecken die Lügen in den Pro-Startbahn-Gutachten, die falschen Voraussetzungen, die verlogenen Prioritäten und die betrügerischen Genehmigungsbescheide. Die Startbahn West ist mit demokratischen Mitteln nicht mehr durchsetzbar. Die hessische Landesregierung hat uns den ökologischen Bürgerkrieg erklärt. Wir weigern uns, diese gewaltsame »Kriegserklärung« anzunehmen, und bleiben hartnäckig und phantasievoll beim gewaltfreien Widerstand gegen die Startbahn West.
Der Protest gegen die Startbahn hat für die Bundesrepublik inzwischen Symbolcharakter bekommen. Hier in Hessen kann man beobachten, wie sich eine Regierung wehrt, wenn ein Großprojekt, an dem mächtige wirtschaftliche Interessen hängen, durch den Widerstand der Bürger*innen einer Region verhindert zu werden droht. Wir müssen damit rechnen, dass der Protest gegen technologische Großprojekte in Zukunft in der ganzen Bundesrepublik vom Staat mit derart martialischer Gewalt bekämpft wird. Weitere Anzeichen sehen wir hier in den letzten Wochen. Die Gemeinde Mörfelden-Walldorf südlich des Flughafens wird in Angst und Schrecken versetzt. Zivilpolizisten folgen Familien von der Wohnung bis zum Supermarkt. überfälle und Provokationen sind an der Tagesordnung. In Frankfurt ist es in manchen Nächten gefährlich, auf die Straße zu gehen, weil zuviel Polizei auf den Straßen ist.
Eine besonders üble Rolle spielen auch Zivilbeamte in Frankfurt: Mit der Mentalität jähzorniger, blindwütiger Rächer jagen und prügeln sie Startbahngegner*innen, die von einer Demonstration nach Hause gehen bis in Gaststätten, schlugen mindestens eine Frau in einer Toilette zusammen. Sie reißen harmlosen Passanten Kameras von der Schulter, bedrohen eine alte Frau und schlagen Kinder. Sie zwingen einen allein nach Hause gehenden Mann, sich mitten im Winter in Frankfurt-Nordend bis auf die Unterhose auszuziehen. Sie zerren Menschen aus an Ampeln stehenden PKWs, prügeln Festgenommene und nehmen anlasslos fest, kurz: sie üben Terror aus.
ln Südhessen herrscht, noch unbemerkt von der bundesrepublikanischen öffentlichkeit, ein nicht ausgerufener Notstand.
(4)
Erklärung v. 4.11.1983
»Reinhard Rochus und der sachbearbeitende Staatsanwalt Jörg Kloth erklärten vor der Presse, die von den GRÜNEN IM RÖMER schon bald nach den nächtlichen Nordend-Ereignissen erhobenen Vorwürfe gegen die Polizei deckten sich mit dem Ergebnis der behördlichen Ermittlungen.« (5)
Auszug aus einer Rede.
Stadtverordnete Jutta Ditfurth (GRÜNE):
»Interessant ist, dass gegen die anderen Polizisten im Einsatz in dieser Nacht, die die Leute zusammengeschlagen haben, die zu zahllosen Verletzungen führten, die sich verhalten haben, als seien diese Menschen ein Stück Dreck und nichts anderes, dass gegen diese Polizisten leider nicht ermittelt werden kann, weil sie als maskierte...«
Stadtverordnete Frau Dr. Bodenstedt (CDU): »Thema!«
» ... terrorausübende Menschen im Einsatz waren.«
Zwischenrufe bei der CDU.
»Man hat bedauernd feststellen müssen, dass sie aufgrund heruntergenommener Helme und fehlender Dienstnummern und der fehlenden Bereitschaft, sich auszuweisen oder zu nennen, wer sie sind, welche Dienstnummern sie hatten, leider nicht festgestellt werden konnten. 79 von ihnen wurden vernommen, den Rest hat man sich gespart, weil die Staatsanwaltschaft selber sagt, wahrscheinlich wäre da auch nichts herausgekommen, die hatten sich nur gegenseitig gedeckt, sie hatten alle nichts gemacht. Also der einzige, der bleibt, ist der Leiter einer der beiden Hundertschaften, die damals diesen ′Polizeiüberfall′ zu verantworten hatten (...)«.
Stadtverordnete Frau Dr. Bodenstedt-CDU: »Thema!«
(6)
Presseerklärung, 24.11.1986
Blutige Köpfe, psychische Traumen - alles nur geträumt? Fünf Jahre später, nach einem Jahr Prozessdauer, 50 Verhandlungstagen und der Vernehmung von 136 Zeug*innen wurde Leiter des Polizeiüberfalls in der Frankfurter Rohrbachstraße, SEK-Leiter Hans-Robert Philippi, von einem Frankfurter Schwurgericht freigesprochen. (...) Er wurde freigesprochen, unter anderem weil das Gericht von seinen drei unterschiedlichen Aussagen die für ihn günstigste (»nichts gesehen, nichts gehört, eigentlich gar nicht dabei gewesen«) unterstellte. Eine Wertung, wie wir sie in keinem der Verfahren gegen Startbahngegner*innen je erlebt haben.
Im Bericht an den Hessischen Innenminister Winterstein (SPD) hatte Philippi noch zu seiner Tat gestanden: Er sei in einer Gruppe von Beamten gewesen, und aufgrund seiner Anordnung sei die Demonstration gewaltsam »unter Zuhilfenahme des Schlagstockes« aufgelöst worden. Das Gericht unterstellte bei seinem Freispruch, dass er von allem nichts mitgekriegt habe. Aber noch vor der Staatsanwaltschaft hatte Philippi zugegeben, die sofortige »Auflösung« angeordnet zu haben.
Dennoch legte das Gericht eine dritte Aussage zugrunde: Nicht dabeigewesen ... nicht verantwortlich... Das Gericht hat sich damit zu neunzig Prozent der Polizeiversion angeschlossen. Der Richter schloss in der mündlichen Urteilsbegründung nicht aus, dass die Polizeizeugen lügen könnten. Er glaube es aber doch nicht, weil es ja Widersprüche in den Polizeizeugenaussagen gegeben habe. Polizeiaussagen, dass massiv Steine flogen, nahm das Gericht als wahr an, obgleich Anwohner*innen, unbeteiligte Passant*innen, Rechtsanwält*innen, Journalist*innen usw. übereinstimmend das Gegenteil bezeugten und sie alle den Polizeiüberfall in der Rohrbachstraße als mörderisch beschrieben. Die Wahrheit der zusammengeschlagenen Menschen, von denen sieben als Nebenkläger*innen am Prozess beteiligt waren, interessierte nicht. Im Zweifelsfall stets für die Polizei, für den Staat.
Anmerkungen
(1) Die Grünen im Römer/Arbeitsgruppe Rohrbachstraße: Frankfurt. Rohrbachstraße - wie der Widerstand gegen die Startbahn West zerbrochen werden soll. Frankfurt, Januar 1982. Aus dem Vorwort.
(2) Grüne Hessenzeitung (GHZ) Nr. 6/81 Dezember 1981. Auszüge aus Zeug*innenaussagen.
(3) Auszug aus dem Wortprotokoll der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Frankfurt am 19.11.1981.
(4) s. (1) Schlusswort.
(5) zit. in: Frankfurter Rundschau v. 5.11.1983.
(6) Aus dem Wortprotokoll der Stadtverordnetenversammlung v. 17.11.1983.
(7) Jutta Ditfurth und Manfred Zieran in einer Pressemitteilung des Bundesvorstandes der GRÜNEN v. 24.11.1986.
Am 6. Juni 1986 begann vor dem Frankfurter Amtsgericht der »Polizeiprozess« gegen Manfred Zieran, Fritz Jantschke, Michael Schwarz, Walter Oswalt und mich. Strafanzeigensteller waren der Frankfurter Polizeipräsident, der Direktor der Hessischen Bereitschaftspolizei (Wiesbaden), der Direktor der Hessischen Polizeischule (Wiesbaden), der Regierungspräsident Darmstadt, der Bremerhavener Oberbürgermeister als Leiter der Ordnungsbehörde und der Polizeibeamte Claus Dülfer. Strafanzeige wurde gestellt wegen »Verdacht der verfassungsfeindlichen Einwirkung auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane (Polizei), Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung gemäß §§ 89, 185, 186, 187 StGB.
Anlass war unsere Antrag vom 26. Dezember 1984 an das Frankfurter Stadtparlament und zwei Reden, die wir in der Diskussion um den Antrag im Parlament gehalten hatten. In dem Antrag verlangten wir u. a. Namensschilder für die Polizei und begründeten das mit zahllosen Polizeiübergriffen. Wir verlangten weiter den Abbau von Videokameras, die der überwachung von Demonstrationen und/oder Passantinnen dienen, und wollten, dass Polizisten auf Frankfurter Stadtgebiet nicht mehr als Spitzel, Provokateure oder Untergrundagenten eingesetzt werden. Der Antrag wurde abgelehnt.
Der Prozess dauerte nur 5 Verhandlungstage. An jedem Verhandlungstag schleppten wir unsere Riesensammlung von mehr als 30 Aktenordner mit den Belegen für unsere Kritik an der Polizei und für unsere Analyse, dass die Polizei im Durchschnitt krimineller ist als die Bevölkerung, ins Gericht. Unsere Anwälte, H.-Jürgen Borowsky, Eberhard Kempf, Hans-Joachim Weider und Arnim Golzem, begannen, die ersten 127 Beweisanträge vorzutragen: polizeiliche Todesschüsse, Anstiftungen zu Straftaten, Misshandlungen und Folterungen von Stadtstreicher*innen und Ausländer*innen, Spitzeltätigkeiten, Polizeikriminalität vom Drogenhandel bis zur Zuhälterei, Treibjagden und Zusammenknüppeln von Demonstrant*innen, Polizeikessel und Giftgaseinsatz.
Staatsanwaltschaft und Gericht sahen daraufhin keinen Sinn in der Fortsetzung des Prozesses. Sie ahnten die Gefahr, dass der Prozess sich in ein Tribunal nicht gegen uns, sondern gegen die Polizei wandeln würde. Der Staatsanwalt fragte bei den Anzeigeerstatter*innen an, ob sie der Einstellung des Prozesses zustimmen wollten. Der hessische Innenminister Winterstein(SPD), verantwortlich für die Einsätze an der Startbahn West und in der Rohrbachstraße, traf die Entscheidung. Er wies – während der rosa-GRÜNEN-Koalition in Hessen – den unwilligen Frankfurter Polizeipräsidenten Gemmer (SPD) an, bei seiner Anzeige gegen uns zu bleiben. Der Streit der Strafverfolgungsorgane wurde öffentlich. Rund eineinhalb Jahre später, am 5. November 1987, wurde der Prozess auf Kosten des Staates eingestellt (§ 15311). Freispruch zweiter Klasse.
Alles, was wir über die Polizei in der Bundesrepublik gesagt und geschrieben haben, ist mehr als nur eine Auflistung von Zeugenaussagen, Dokumenten, Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Untersuchungen, Fotos, Statistiken und eigenen Erfahrungen über die Polizei in der Bundesrepublik. Grundlage für unsere politischen Forderungen und unsere Beurteilung der Polizei im einzelnen ist eine umfassende Analyse der Polizei als Teil des Staatsapparates, als Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols und ihrer Funktion in der Gesellschaft.
Wie will die Polizei der Bürgerin, dem Bürger erscheinen, was behauptet sie zu sein? Die Polizei als Polizeistreife, die Straßen und Plätze so sichert, dass man sich nachts aus dem Haus trauen kann. Die Polizei als Kriminalpolizei, die Verbrecher jagt und dem Bürger rät, wie er sich vor dem Bösen schützt. Die Polizei als Verkehrspolizei, die Kindern und alten Menschen über die Straße hilft. Die Polizei als Grenzpolizei, die den Schmuggel von Drogen und Waffen in unser Land verhindert, die Polizei als Polizeiwache um die Ecke, die man in der Not um Hilfe rufen kann. Die Polizei als Autobahnpolizei, die für Ordnung auf den Straßen sorgt. Die Polizei, die schützt, hilft, rät, vermittelt, informiert, abwehrt, schlichtet, aufpasst, regelt, sichert, wacht (…). Die Staatsdoktrin: Mit dem in der Polizei verkörperten Gewaltmonopol des Staates wird der Bürger vor zu Unrecht ausgeübter Gewalt geschützt. Und die Mehrheit der Bevölkerung nimmt die Polizei so wahr.
Doch viele sogenannte »unauffällige Bürger« (Polizeijargon) erleben die Polizei nicht als wehrhafte Engel gegen das Böse, nicht als guten Schutzmann an der Ecke. Für immer mehr Bürger*innen ist die Polizei eine Institution, die für sie – mit steigender Zentralisierung und Technisierung wachsend – anonymer, undurchschaubarer wird. Es erscheint ihm oder ihr die Polizei mehr und mehr kalt registrierend, immer wieder drohend und häufig unberechenbar gewalttätig.
Es gibt das Unbehagen über Videokameras, mit denen die Polizei mehr macht, als lediglich Verkehrssünder*innen zu registrieren. Das Wissen breitet sich aus, dass Menschen von der Polizei blutig geschlagen werden können, nur weil sie im Halteverbot stehen, dass mensch auf der Autobahn als Lastkraftwagenfahrer*innen damit rechnen muss, durch Polizisten einen Teil der Ladung durch Erpressung oder Raub zu verlieren.
Immer mehr Bürger*innen bezweifeln, dass es Sinn hat, die Polizei zu rufen, wenn Gewalt zu verhindern ist. Oft schon hat sich ein Gewalttäter, Dieb, Zuhälter oder Dealer als Polizist herausgestellt. Aber auch im staatlichen Auftrag mischen Beamte und V-Leute im Drogenhandel, bei Waffengeschäften und bei Raubüberfällen mit – wie wir an vielen Einzelbeispielen nachweisen können.
Jeder weiß, dass die Polizei nicht nur auf »gefährliche Terrorist*innen« schießt, um hilflose Geiseln zu befreien, jeder weiß, dass der Todesschuss von Gauting kein Einzelfall war, dass mehr als der eine Jugendliche, über den mensch in der Zeitung lesen konnte, von der Polizei erschossen wurde. Das macht Angst. Menschen, die in den Augen der Polizei nicht als »normale Bürger« gelten, erfahren diese noch weniger als »Freund und Helfer«. Es kommt vor, dass Stadtstreicher durch die Polizei gefoltert werden, dass sie Punks zusammengepfercht und verprügelt, ausländische Mitbürger*innen beleidigt, misshandelt, gequält und erschießt, politisch aktive Bürger*innen bespitzelt, zusammengetrieben, überfahren, geschlagen, mit Giftgas verletzt, eingesperrt, ihrer Freiheit beraubt, Obdachlose schikaniert und ausgesetzt, Homosexuelle polizeilich verfolgt.
»Die Polizei als Organ des staatlichen Gewaltmonopols soll den Bürger und die Bürgerin vor zu Unrecht ausgeübter privater Gewalt schützen« sagt die Staatsdoktrin. Schützt uns die Polizei vor der Gewalt der Großindustrie? Vor der Tötung von Menschen durch die Vergiftung der Lebensgrundlagen? Vor der Verfügungsgewalt über Grund, Boden und Produktionsmittel? Würde die Polizei tatsächlich zum Schutz der Bürger*innen vor privater Gewalt eingesetzt, hätte sie die Stillegung der Giftproduktion der Hoechst AG polizeilich vollzogen, hätte im Startbahnwald die Holzfäller oder besser den Vorstand der Flughafen AG vorübergehend zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung festgenommen, hätte zusammen mit den Bürger*innen, da Gefahr im Verzug war, die Mauer von Wackersdorf weggeräumt.
Die Polizei macht genau das nicht, was sie vorgibt. Sie segelt unter weißer Flagge, hat aber in Wirklichkeit einen militärischen Auftrag. Die Polizei schützt die Bürger systematisch nicht vor Gewalt. Die Polizei hat in den letzten 10 Jahren mehr als 150 Menschen erschossen. Wenn junge Polizisten militärisch kaserniert ausgebildet werden, wenn in der Schießausbildung immer mehr trainiert wird, in die Bereiche Bauch, Kopf und Brust zu schießen, statt ins Bein, wenn die Polizei mit immer todsichereren Waffen ausgerüstet wird, wenn zur Perfektionierung des Todesschusses Präzisionsschützenkommandos und Spezialeinsatzkommandos zusätzlich eingesetzt werden, wenn ein Polizeigesetz beschlossen wird, das den Todesschuss selbst gegen Kinder legalisiert, dann ist es kein Zufall, sondern die Konsequenz des Systems.
Warum sollen Polizisten töten und verletzen? Kaum, um dem bürgerlichen Anspruch gerecht zu werden, das staatliche Gewaltmonopol solle angeblich den Krieg der Starken gegen die Schwachen verhindern. Die behauptete »friedensstiftende« Funktion hat die Polizei nur im individuellen Bereich. Sie kann das Faustrecht verhindern, wenn einer dem anderen den Schädel einschlagen will. Aber der größte Teil gesellschaftlicher Gewalt betrifft nicht Konflikte zwischen einzelnen Menschen. Das ist die Gewalt, die von den herrschenden Interessengruppen ausgeht. Hier tut die Polizei das Gegenteil von dem, was sie vorgibt: Sie sichert und schützt selbst zu Unrecht ausgeübte Gewalt.
Die Geschichte der Demonstrationen in der Bundesrepublik, bei denen Polizisten gewalttätig werden, ist ein tausendfaches Beispiel dafür, dass das Gewaltmonopol benutzt wird, um die Gewaltstrukturen in der Gesellschaft und Herrschaft des Kapitals gegen die Bürger*innen zu sichern und zu vergrößern. Die Polizei wird nicht zur Verteidigung von »Demokratie und Freiheit« eingesetzt, sondern zur Verteidigung der Vorrechte der Herrschaftsgruppen, gegen Freiheit und Demokratie und für die Betonierung sozialer Ungleichheit.
Der polizeiliche Kampf gegen gesellschaftliche Opposition hat sich im Lauf der Jahre gewandelt, im Prinzip hat sich jedoch nichts Wesentliches geändert. Schon in den 50er und 60er Jahren standen manöverähnliche Erprobungen der Niederschlagung von Streiks oder Aufständen im Aufgabenplan der Polizei, in enger Kooperation mit Bundesgrenzschutz, Bundeswehr und US-Army, lange vor den großen Streiks Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Die Startbahn West, die Westend-Zerstörung in Frankfurt, die Tötung von Günter Sare, die Blockaden von Pershing-Hausen, Nukem-Alkem in Hanau, US-Air Base und die Auseinandersetzungen um die jeweiligen Projekte sind aktuelle Beispiele aus der Region.
Die historische Wahrheit widerspricht also auch dem bequemen Mythos der sogenannten »Gewaltspirale«, als ob der Staat nur aufrüstet, wenn die Opposition dies tut. Alle Aufrüstungsschritte des staatlichen Gewaltapparates sind im Kern unabhängig von der Entwicklung der Widerstandsformen gemacht worden. Nicht der Terrorismus Anfang der 1970er Jahre ist die Ursache für die innere Aufrüstung des Staates. Er dient der Legitimation und beschleunigt staatliche Aufrüstung.
»Es waren Zeiten der Krise, der Unruhen und des Umbruchs: die Studentenbewegung, die Schaffung der großen Koalition aus CDU und SPD, die Verabschiedung der Notstandsgesetze, wenig später die Bildung der kleinen Regierungskoalition aus SPD und FDP, dann die sogenannte ölkrise sind nur die knappen Stichworte für diese Entwicklung (...)« , sagte Horst Herold (SPD) 1980 in einer Rückbetrachtung, und weiter: »Ich bin nicht der Auffassung, dass der Terrorismus als solcher eine gesellschaftliche Gefahr bedeutet.« Statt dessen: »Wir (die Polizei) müssen mit Situationen kalkulieren, die mir nicht für immer ausgeschlossen scheinen: wirtschaftlich-ökonomische Krisen etwa, depressive Prozesse, in denen die Zuwachsrate von 2 Prozent sich auf Null minimalisiert, was sich dann schlagartig im Bewusstsein der Bevölkerung niederschlagen kann. Staatsverdrossenheit, Autoritätsverfall, Loyalitätskrisen, Erschütterungen der staatlichen Organe, Umwertung der Traditionen, die die Staatsapparate in aller Welt tragen: Pflichtgefühl, Gehorsam, Disziplin, Verschwiegenheit, Geheimnis, Leistung - all dies ist längst in einem Umformungsprozess begriffen.« (Rolf Gössner u.a.: Der Apparat, 1982)
Genauso entscheidend ist aber der gewalttätige Polizeieinsatz im scheinbar unpolitischen Alltag. Der Polizist an der Ecke mit der Waffe im Gürtel verkörpert in einer anderen Form das gleiche, was der militarisierte Einsatz von Polizeitruppen bei Demonstrationen bedeutet: Der Staat behält es sich vor, mittels der Polizei Bürger*innen zu verletzen oder sogar umzubringen. Die permanente Androhung und die gezielte Ausübung polizeilicher Gewalt schaffen eine allgemeine Angst vor dem Staat. Diese Angst ist das Fundament der sogenannten »inneren Sicherheit« und sichert Herrschaft vorzüglich.
Die Polizei als staatliche Angsterzeugungsindustrie. Die staatlich verordnete Angst in der Bundesrepublik ist intelligent dosiert. Wer sich der Angst unterwirft braucht keine Angst zu haben. Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht. Polizeiliche Gewalt schafft gezielt Angst an den Rändern der sogenannten Normalität, damit der Apparat funktioniert.
Das Beispiel Todesschuss: Der Todesschuss durch die Polizei ist die Erhaltung des Rechts eines absolutistischen Staates, Bürger*innen umzubringen, ohne auf Gerichtsurteile oder Parlamente warten zu müssen. Es ist die Androhung und die Ausübung staatlich legitimierter Lynchjustiz. Es gibt viele Arten staatlicher Gewalt gegen Bürger*innen – von der Schule bis zum Militär. Es ist die besondere Funktion der Polizei, staatlich legitimierte körperliche Gewalt durch Verletzung, Freiheitsberaubung oder Tötung auszuüben.
Das Staatsbild, das hinter der Polizei steht, heißt: Dieser Staat muss mit allen Mitteln geschützt werden. Die herrschende Gessellschaftsform ist um jeden Preis zu verteidigen. Der Staat hat das Recht, gegen bürgerliche Freiheiten, gegen individuelle Freiheiten vorzugehen, gegen Demokratie und Freiheit. Die Sicherung staatlicher Macht ist ein Wert an sich. Dafür müssen im Notfall auch die Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden. Einer derjenigen, die hinter der Polizei stehen, Ernst Albrecht, der niedersächsische Ministerpräsident (CDU), hat es in der Erstauflage seines Buches Der Staat - Idee und Wirklichkeit unmissverständlich ausgedrückt. Für ihn hat der Staat das Recht, wenn die Verhältnisse entsprechend sind, »gegen das Verbot grausamer, unmenschlicher Behandlung und insbesondere der Folter zu verstoßen«. Der Oberbefehlshaber der Polizei in Niedersachsen hält also die Anwendung der Folter unter Umständen für geradezu sittlich geboten. Der Staat erhält das Recht, das Grundgesetz außer Kraft zu setzen.
Solchen Aussagen von polizeilich Verantwortlichen und jedem der tausend »Einzelfälle« von polizeilichen Verstößen gegen Menschen- und Bürgerrechte muss vor dem Hintergrund der Geschichte der Polizei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn die deutsche Polizei ist im doppelten Sinne von ihrer Geschichte her keine Institution der Demokratie:
1. Im Ursprung ist die Polizei nicht das Resultat demokratischer Bewegungen zur Durchsetzung bürgerlicher Rechte, sondern ein vom Militär im absolutistischen Staat abgespaltener Teil. Militärische Befehle, Ausbildungs- und Organisationsstrukturen, die immer antidemokratisch waren und sind, bestimmen bis heute die Polizei. Die Polizei hatte von ihrem Ursprung her die Aufgabe , die Spezialtruppe mit dem Auftrag Krieg gegen die Bürger*innen zu sein. Durchaus nicht unhistorisch spricht heute der ehemalige bayerische CSU-Innenminister Georg Tandler von »Polizeistreitkräften« und will den Schusswaffeneinsatz bei Demonstrationen »zur Diskussion« stellen.
2. Die deutsche Polizei war eine der tragenden Säulen des Faschismus. Der Völkermord, die Folter, die Verfolgung von Kommunisten und Kommunistinnen, Juden und Jüdinnen, Sintis, Homosexuellen u. a. war nur mit Hilfe der Pflichterfüllung und -übererfüllung der deutschen Polizei möglich. Die Polizei der Bundesrepublik hat ihre Herkunft nie offen und selbstkritisch untersucht und daraus die notwendigen Konsequenzen zur Verhinderung eines faschistischen Umkippens des Polizeisystems gezogen. Nach dem Krieg wurde als Konsequenz aus den leidvollen Erfahrungen mit der Gestapo verfassungsrechtlich die Trennung von polizeilicher und geheimdienstlicher Tätigkeit verankert, eine notwendige Voraussetzung zur Befreiung der Polizei von ihrer faschistoiden Tendenz. Dieser Grundsatz der Trennung wird seit einiger Zeit bereits durch die technischen Möglichkeiten des totalen Staates unterlaufen.
Der Datenschutzexperte Professor Steinmüller sagt dazu: »Die Verfassungsgrenzen bleiben nach außen hin bestehen, aber dahinter laufen die Informationsbahnen von extensiver ‚Amtshilfe’ und von exzessivem Datentausch. Das hat man im Bundesinnenministerium deutlich erkannt, wo zu hören war, dass die alte Gestapo-Struktur jetzt auf dem neuen Datenwege drauf und dran war, wiederhergestellt zu werden. Die Gestapo war ja auch dadurch konstituiert, dass sie die Verbindung von Vollzugspolizei, Sicherheitsverwaltung und Nachrichtendiensten herstellte (…) das bedeutet, dass man auf dem Informationswege die alte Struktur nachbildete. Es ist hier wirklich eine fast tödliche Gefahr entstanden (…)«.
Das geplante »Zusammenarbeitsgesetz (ZAG)«, Teil der heftig umstrittenen sogenannten Sicherheitsgesetze, z.B. soll die Trennung zwischen dem Militärischen Abschirmdienst, den Verfassungsschutzämtern von Bund und Ländern, dem Bundeskriminalamt, dem Bundesgrenzschutz, den Staatsanwaltschaften und den Länderpolizeibehörden aufheben. Das ist ein weiterer Schritt zur Wiedereinführung einer geheimen Staatspolizei. Ein immer dichtmaschigeres Netz staatlicher überwachung und Kontrolle wird durch alle Bereiche der Gesellschaft gezogen.
Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung und polizeiliche Strategie passen nahtlos zusammen. Die Lebensbereiche werden entvergesellschaftet. Alte, gewachsene Zusammenhänge und Chancen für neue soziale Vernetzungen werden zerstört. Dazu gehört: nachbarliche Hilfe, Zusammenleben von verschiedenen Generationen, Gruppen und Kulturen, Plätze der Verständigung und der Auseinandersetzung usw. Hochhäuser und Autobahnen produzieren Gewalt. Häuser, in denen Menschen sterben können, ohne dass es jemand merkt, Straßen, auf denen Kinder weniger Platz als Autos haben, Stadtteile, in denen ausländische Mitbürger*innen ghettoisiert werden, sind der ideale Nährboden für die modernisierte Polizei. Entvergesellschaftete Bereiche der Gesellschaft, in denen zumindest die Chance gewaltfreier Interessenaustragung angelegt war, werden verstaatlicht und nach den Gesetzen des Gewaltmonopols bis in die feinsten Verästelungen des persönlichen Lebens durch den Staatsapparat beherrscht. Vom Jugendpolizisten bis zum Kontaktbereichsbeamten, der an den Datenverbund der Geheimdienste angeschlossen ist, da wo durch Kapitalgewalt und staatliche Ignoranz soziales Leben zerstört wurde, macht sich mit Hilfe der Polizei der totale Rechtsstaat breit. Der Polizist wird zum Sozialingenieur.
Landespolizeipräsident Alfred Stümper (Baden-Württemberg) stellte fest, es komme »in erster Linie nicht darauf an, die einzelne Straftat aufzuklären, zu verfolgen und den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen, es kommt auch nicht einmal letztlich darauf an, konkret bevorstehende nächste Straftaten zu verhindern...«.
Auf was kommt es der modernen Polizei also an? Es geht um die Totalerfassung im Vorfeld, die sogenannte Prävention. Jede Bürgerin, jeder Bürger ist für die Polizei ein/e potentielle/r Verbrecherin. Stümper weiter: »Die Funktionsweise der Polizei im Ermittlungsbereich ist vom Wesen her Verdachtsgewinnung auf Grund sich laufend anreichernder und steigernder einzelner, anfänglich oft ganz minimaler Vedachtsmomente, es interessiert im wahrsten Sinn des Worts unter Umständen selbst das Schwarze unter dem Fingernagel. So erfolgt auch der erste Ansatz der persönlichen Verdachtsschöpfung oft ganz weit im Vorfeld. Dabei erfasst er im ersten Ermittlungsstadium oft eine Vielzahl noch nahezu unverdächtiger Personen...«.
Die polizeiliche Gewalt beginnt nicht erst damit, dass ein/e »auffällige/r« Bürgerin im Fadenkreuz des Dienstgewehrs anvisiert wird, sondern schon mit der polizeilichen Erfassung aller Bürger im Computerraster des überwachungsstaates. Dadurch wird mensch seiner Menschlichkeit beraubt, für den Staat als Marionette aus Daten verfügbar.
Im totalen Staat, in dem die Polizei als Sozialhygienespezialist in vorderster Linie arbeitet, werden der Bürger und die Bürgerin zum doppelten Opfer des Staates. Er wird nicht nur durch die Polizei zum potentiellen Täter, sondern gleichzeitig verpolizeilicht, zum Denunzianten, zur Hilfstruppe der Polizei gemacht. Polizeihauptkommissar Wolfgang Kay fordert, dass der Bürger selbst »in seinem eigenen Interesse Auge und Ohr« der Behörde sein müsste. In einer Schrift der Polizeiführungsakademie steht: »Die Polizei muss sich des Potentials Bürger bewusst werden und vergegenwärtigen, dass sie von der konstruktiven Zusammenarbeit mit ihm lebt. Dann kann damit gerechnet werden, dass verdächtige Wahrnehmungen weitergegeben werden (…) Ich erinnere (…) an die positive Zusammenarbeit im Bereich Bekämpfung des Terrorismus. Was in extremen Lagen praktikabel ist, muss im Normalfall die Regel werden.«
Die neue Geheimpolizei und der neue Blockwart haben ein Repertoire neuer ungeahnter technischer Mittel der überwachung und Bespitzelung. Die Methoden und das Staatsverständnis, mit dem es durchgesetzt wird, knüpfen ungebrochen an die verdrängte Geschichte des deutschen Faschismus an.
Ein Ausnahmefall, der symptomatisch ist: die Verpolizeilichung der Kinder. In Bremen hat die Polizei Kinder indoktriniert, wie sie andere Kinder bespitzeln und strafverfolgen sollen. Den Kinderpolizisten wurde das Gefühl gegeben, »Sheriffs der Hinterhöfe« zu sein. Kinderpolizeiausweise wurden ihnen ausgestellt.
Was wollen wir kurz- und mittelfristig in diesem Staat mit der Polizei? Wir fordern eine entwaffnete und demokratisierte Polizei. Eine Polizei, die sich an die Grundrechte und die Charta der Menschenrechte hält. Eine gewaltärmere und demokratischere Polizei ist nur möglich, wenn sie kontrolliert wird. Aber die Polizei schottet sich gegen jede demokratische Kontrolle ab. Elementare Daten über Eingriffe der Polizei in das Leben der Bevölkerung werden verweigert. Selbst die Todesschussstatistik, die aufklären könnte, wie viele Menschen die Polizei unter welchen Bedingungen erschossen hat, ist nur durch die Innenministerkonferenz zensiert zugänglich. Polizisten, die sich strafbar gemacht haben, werden vom Polizeiapparat gedeckt, durch Lügen und Verleumdungen.
Zum Beispiel der Fall des Fotojournalisten Rolf Böhm, der am 2.11.1981 bei der Räumung des Hüttendorfs von der Polizei brutal zusammenschlagen wurde, weil er das Recht auf freie Pressearbeit in Anspruch nahm. Hunderte von Verfahren gegen gewalttätige Polizisten werden jedes Jahr eingestellt, weil der Täter angeblich nicht zu ermitteln ist. Doch Rolf Böhm hatte den Polizisten, der ihn misshandelte, kurz vor dessen ersten Schlag fotografiert. Ein deutliches Porträt lag glücklicherweise vor. Aber die Polizei teilt mit, der Polizist sei nicht zu ermitteln. Ein Foto, so scharf, dass es der Polizei ausreichen würde, um einen Bankräuber aus 60 Millionen Menschen herauszufinden, genügt angeblich nicht, um aus einer begrenzten Zahl bekannter, an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt eingesetzter Beamter einen Polizisten zu identifizieren. Ein Beispiel wie viele andere.
Das die Polizei nicht kontrolliert wird, ist strukturell in ihr angelegt. Es gibt kein Staatsorgan, das die Polizei unabhängig kontrollieren könnte. Denn die Polizei ist die ausführende Ermittlungsbehörde schlechthin. Die Polizei müsste also gegen sich selbst ermitteln. Das kann nicht funktionieren. Die Kontrolle findet von Staats wegen nicht statt. Die Polizei soll nach dem Willen ihrer Planer, Konstrukteure und Verantwortlichen nicht kontrolliert werden, denn ein wesentlicher Teil der polizeilichen Macht ist an ihre Unkontrollierbarkeit gebunden. Deshalb müssen die Bürger die Kontrolle der Polizei selbst in die Hand nehmen. Überall in der Bundesrepublik sind »Bürger beobachten die Polizei«-Initiativen entstanden. Unser Antrag und unsere Diskussionsbeiträge im Frankfurter Stadtparlament waren ein Beitrag zu dieser öffentlichen, demokratischen Kontrolle der Polizei durch die Bürger. In doppelter Hinsicht: Wir haben im Römer Informationen über die Polizei zusammengetragen, um Öffentlichkeit zu schaffen, und wir haben aufgrund des Materials Maßnahmen gefordert, die die Polizei aus ihrer gewaltstiftenden Anonymität und Konspiration herausholen.
Eine alte, selbstverständliche, linke, liberale und wertkonservative Forderung in unserem Antrag war, dass sich jeder Polizist im Einsatz mit einem Namensschild ausweisen muss. Im Fall Böhm hätte so jeder Bürger ein Strafverfahren gegen den angeblich unauffindbaren Polizisten erzwingen können. Aber selbst eine Miniaturmassnahme wie diese wird von der Polizeiführung hier und anderswo bekämpft, als hätten wir den Kopf der Polizeiführung oder gar die Verkündung der Anarchie gefordert.
Das Material, das wir über die Polizeipraxis gesammelt hatten, konnten wir im Stadtparlament nicht vortragen. Wir kündeten in der Debatte den Vortrag der Belege im einzelnen an. Die CDU beantragte daraufhin sofort Schluss der Debatte und verhinderte die Diskussion mit einem parlamentarischen Redeverbot.
Jetzt werden Beschreibungen der Polizeipraxis juristisch verfolgt, von denen jeder Staatsanwalt, würde er ermitteln, wissen müsste, dass sie »erweislich wahr« sind. Warum diese Angst vor demokratischer Verbesserung der Polizei, warum diese Härte des Staates gegenüber der Forderung nach öffentlicher Kontrolle der Polizei?
Es geht um die grundsätzliche Einstellung zum Staat. Denn letzten Endes gibt es für die Polizei nur zwei mögliche Funktionsweisen:
1. Die Polizei als Staat im Staat für die Machterhaltung und Machtexpansion der staatstragenden Komplexe, für die Interessen von Bürokratie, Kapital und Militär.
Ausgehend von der behaupteten, unabänderlichen Gewaltnatur des Menschen werden Gefängnisse, Polizeiapparat, Schulen, Geheimdienste und Militär als Gegengewalt – zur Verhinderung des Krieges aller gegen alle – legitimiert (Hobbes). Die Polizei ist im Zentrum des Staates prinzipiell nicht in Frage stellbar, ihre Existenz ist quasi Naturgesetz. Sie muss geradezu »naturgemäß« autoritär gewalttätig sein. Das ist in letzter Konsequenz immer der Weg zur Diktatur mit allen ihren sanften bis harten Ausprägungsformen.
Die Herrschenden tendieren schon immer zu dieser ersten Funktionsmöglichkeit der Polizei. Dieser autoritäre Staatsbegriff erzwingt die Bekämpfung jeder öffentlichen Kontrolle und Demokratisierung der Polizei.
2. Die andere Funktionsmöglichkeit der Polizei geht von der spezifischen Gewalt in der Gesellschaft als nicht naturgegeben, sondern als Ergebnis bestimmter existierender Gesellschaftsstrukturen aus. Die Menschen könnten auch gewaltfrei, voller Konflikte zwar, aber solidarisch zusammenleben, in einer Gesellschaft, frei von der Herrschaft von Kapital und Militär. Aber auch solange das nicht erreicht ist, ist die Polizei schon aufgrund ihrer strukturellen Tendenz zur Gewalt einer unabhängigen BürgerInnenkontrolle zu unterstellen.
Für eine demokratisierte Polizei eintreten, die die Menschenrechte respektiert, setzt voraus, zu erkennen, dass es letztendlich eine demokratische und gewaltfreie nicht geben kann. Die Polizei als Polizei muss, weil sie das Organ des Gewaltmonopols des Staates ist, immer eine gewaltstiftende und undemokratische Grundposition haben. Umgekehrt: Wenn wir die Polizei heute abschaffen würden, könnte kein gewaltfreies Paradies ausbrechen. Dafür ist die Gewaltstruktur des Industriesystems als Ganzes zu übermächtig. Es ist nicht die Polizei, die die Polizei ausmacht.
Zur demokratischen Kontrolle der Polizei gehört, sie in Frage stellen zu können. Unabhängig vom jetzigen Zustand wollen wir eine gewaltfreie und demokratische Gesellschaft, das heißt, eine polizeilose Gesellschaft. Eine polizeilose Gesellschaft zu wollen bedeutet, das Gewaltmonopol des Staates zur Disposition zu stellen. Spätestens hier beginnt das gesellschaftliche Tabu. Wer das sagt, wird als Anarchist im Sinne eines Sympathisanten für brutales Chaos beschimpft, hier hört die Diskussion auf, obwohl sie hier erst richtig anfängt.
Der Beitrag und die Fotos stammen aus dem Buch:
Jutta Ditfurth: TRÄUMEN KÄMPFEN VERWIRKLICHEN. Politische Texte bis 1987. Unter redaktioneller Mitarbeit von Manfred Zieran, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1988, 335 S., vergriffen aber Restexemplare für 4,00 Euro & Porto/Versand in meinem online bookstore:
https://www.jutta-ditfurth.de/allgemein/bookstore.htm#TraeumenKaempfen